„Le siège de ce Land est fixé à MAYENCE”.

Im zweiten Artikel der Verordnung Nr. 57 formuliert die französische Militärregierung ganz klar, dass Mainz die Hauptstadt von Rheinland-Pfalz sein soll. Auch die Regierung solle dort ihren Sitz haben. Sie fügt aber auch hinzu, dass dies erst möglich sei, wenn die wohnlichen Voraussetzungen es erlauben.

Unmittelbar nach Gründung des Bundeslandes waren diese Voraussetzungen in Mainz nicht gegeben. Die Stadt war zu großen Teilen im Krieg zerstört worden, die Wohnsituation war für viele Bürger:innen prekär. An die Unterbringung einer Landesregierung war zunächst nicht zu denken. Man wich aus der Not heraus somit zunächst in die Stadt Koblenz aus, einem ehemaligen preußischen Verwaltungszentrum. Der Landtag hielt dort seine Sitzungen im großen Rathaussaal ab.

In den ersten Jahren der Nachkriegszeit hatte die neukonstituierte Regierung von Rheinland-Pfalz dringendere, existenzielle Probleme zu lösen als die Frage nach der Hauptstadt – erst Ende 1948 entwickelte sich dieses Thema zum Streit.

Dr. Emil Kraus, damaliger Oberbürgermeister von Mainz, ließ sich in einer Rundfunksendung zu der Aussage hinreißen, dass einer Verlegung der Regierung nach Mainz nichts mehr im Wege stünde. Diese Aussage war aus mehreren Gründen überraschend. Zum einen gab es noch immer keine bezugsfähigen Verwaltungsgebäude in Mainz, zum anderen wurde auch Ministerpräsident Peter Altmeier kalt erwischt und bekräftigte, dass er nichts von einem geplanten Umzug der Regierung wisse. Die Debatte um die Hauptstadtfrage war damit trotzdem eröffnet und wurde teilweise hitzig geführt.

Die Städte Mainz und Koblenz bemühten sich, nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen, nach Kräften um die Hervorhebung der jeweiligen Vorteile. Die regionalen Zeitungen, allen voran die Allgemeine Zeitung in Mainz und die Rheinzeitung in Koblenz, hielten die Kontroverse in der Öffentlichkeit, die Stadtpolitik betonte die besondere Eignung ihrer Stadt und die Nachteile der jeweils anderen.

In Mainz sah man sich klar im Vorteil – man hatte die Bestimmungen der Verordnung Nr. 57 auf seiner Seite und betonte auch die geschichtliche Bedeutung der Stadt Mainz. Um Sicherheit bei langfristigen Bauvorhaben zu bekommen, drängte man immer mehr auf eine Entscheidung. In Koblenz befürchtete man beim Weggang der Landesregierung vor allem wirtschaftliche Einbußen. Auch hier wurde die historische Bedeutung der Stadt als Residenz und Regierungssitz der Kurfürsten von Trier und als Hauptstadt der preußischen Rheinprovinz betont. Selbst der Bischof von Mainz, Albert Stohr, schaltete sich in die Diskussion mit ein. Er sah eine Verlegung der Regierung von Koblenz nach Mainz als einen nötigen Schritt, da es ein Wunsch des Volkes sei.

Die französische Militärregierung hatte sich in dieser Frage ja bereits klar auf Mainzer Seite positioniert und hielt daran auch eisern fest. Für sie war ein Ausgleich und Zusammenwachsen zwischen dem Nord- und Südteil des jungen, sich noch konsolidierenden Bundeslandes wichtig, was sie durch die Hauptstadtverlegung zu erreichen hoffte. Peter Altmeier drängte, beflügelt von der souveränen Hauptstadtentscheidung der Bundesrepublik, auf eine freie Entscheidung der rheinland-pfälzischen Regierung in der Hauptstadtfrage. Er versprach sich davon eine höhere Identifikation mit dieser Stadt in der Bevölkerung. Tatsächlich blieb Altmeier hartnäckig und erreichte, dass am 4. April 1950 die Aufhebung der Verordnung Nr. 57 im Landtag verkündet werden konnte. Ab jetzt konnte der Landtag souverän über den Ort des Regierungssitzes entscheiden.

Allen Beteiligten an diesem Streit war klar, dass ein Umzug der Landesregierung sowohl logistische als auch finanzielle Schwierigkeiten mit sich brachte. Ohne den weiteren Wiederaufbau von Büro- und Wohnräumen war an einen Umzug nicht zu denken. Das Land hatte nicht nur Kosten für den eigentlichen Umzug zu tragen, sondern auch für den Wideraufbau der parlamentarischen Infrastruktur in Mainz.

Am 4. April 1950 fand schließlich im Landtag die erste Abstimmung zur Hauptstadtfrage statt. Obwohl man auf Seiten der Landesregierung und des Ältestenrates von einem Votum für Mainz ausging, kam es überraschend zu einer Pattsituation – keine der beiden Städte hatte genug Stimmen bekommen, um sich durchzusetzen. Neben allen bereits genannten Gründen spielte sicherlich auch die regionale Zugehörigkeit der einzelnen Parlamentsmitglieder eine Rolle. In den Regionen des Bundeslandes Rheinland-Pfalz gab es noch nicht das heutige Zusammengehörigkeitsgefühl. Viele Politiker aus den Regierungsbezirken Koblenz und Trier lehnten eine Verlegung der Hauptstadt in den für sie „fremden Süden“ ab. Umgekehrt argumentierten Abgeordnete aus der Pfalz und Rheinhessen. Einige Abgeordnete sahen die komplette Diskussion als überflüssig an und sahen im ganzen Bundesland Rheinland-Pfalz nur ein Provisorium ohne Bestand.

Das unbefriedigende Ergebnis der ersten Abstimmung ließ die Diskussion verständlicherweise nicht verstummen. Die erboste französische Militärregierung antwortete mit Beschlagnahmungen in Koblenz und der Nichtherausgabe der eigentlich für die Landesregierung in Mainz reservierten Gebäude auf die Abstimmung. Im Parlament breitete sich – auch durch den engagierten Einsatz des Ministerpräsidenten – die Erkenntnis aus, dass es sich bei der Hauptstadtfrage um eine Angelegenheit handelte, die bei Uneinigkeit zu einer Bedrohung des gesamten Bundeslandes führen konnte.

So kam es am 16. Mai 1950 zu einer zweiten Abstimmung. Diesmal wurde Mainz als zukünftige Hauptstadt bestimmt. Der bis 1951 abgeschlossene Umzug des Landtags und der Landesregierung spielte langfristig für die Bindung der südlichen Landesteile der Pfalz und Rheinhessens an das neue Land und damit für den dauerhaften Weiterbestand von Rheinland-Pfalz eine wichtige Rolle.

Das nach dem Beschluss eilig wieder aufgebaute Deutschhaus wurde zum Sitz für den Landtag. Die Staatskanzlei fand im benachbarten ehemaligen Zeughaus eine Heimat.


Autor: Lutz Luckhaupt

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