Im Jahr 2010 feierte Boehringer Ingelheim, das heute größte forschende Pharmaunternehmen in Deutschland, sein 125jähriges Bestehen. Das Familienunternehmen Boehringer Ingelheim hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Im Jahr 1885 erwarb Albert Boehringer die Weinsteinfabrik in der Binger Straße in Nieder-Ingelheim. Anfangs arbeiteten hier ca. 20 Beschäftigte. Bis zum Ersten Weltkrieg siedelten sich im heutigen Ingelheim mehrere chemische Betriebe an.

Groß wurde das 1893 in C. H. Boehringer Sohn (CHBS) umbenannte Unternehmen mit der industriellen Produktion von Milchsäure. Auch Alkaloiden wie Morphin kam für den Umsatz zunehmend Bedeutung zu.

Beim 25-jährigen Jubiläum 1910 waren bereits über 150 Mitarbeitende bei CHBS tätig. Das Unternehmen, das damals noch einer von mehreren großen Arbeitgebern war, prägte seinen Standort u.a. durch den damals üblichen Bau von Werkswohnungen (nach Ende des Ersten Weltkriegs etwa 30). Für langjährige Arbeiternehmer gab es ab 1907 eine Unterstützung im Alter, ab 1912 eine Altersversorgung. Im Ersten Weltkrieg richtete CHBS eine Kantine ein.

Da der Unternehmer und Kommerzienrat Albert Boehringer bis 1917 als Leiter einer Sanitätskompanie im Krieg war, vertrat ihn sein Neffe Robert Boehringer. Nach Kriegsende besuchten französische Besatzungsoffiziere im Frühjahr 1919 mehrfach das Werk von Boehringer Sohn in Nieder-Ingelheim – wie auch andere größere Betriebe. Das Unternehmen beschäftigte zu diesem Zeitpunkt 220 Arbeiter. Während der Ruhrkrise wurden Albert Boehringer und sein gleichnamiger Sohn aus der französischen Besatzungszone ausgewiesen. In Hamburg-Moorfleet bauten sie ein zweites Werk für CHBS auf, das 1984 im Zusammenhang mit Dioxinvergiftungen geschlossen wurde.

In der Zeit des Nationalsozialismus wuchs das Unternehmen der national gesinnten Familie auf 1.500 Mitarbeiter an, ohne sich direkt im Rahmen der Arisierung zu bereichern oder Funktionärsämter zu übernehmen. Im Krieg setzte Boehringer wie andere Großbetriebe Zwangsarbeiter ein. Das Verhalten der Unternehmerfamilie, vertreten durch Albert jr., Ernst Boehringer und den Schwager Julius Liebrecht, reichte von Anpassung bis zu partieller Resistenz.

Nach Kriegsende kam es nicht zur zunächst beabsichtigten Demontage. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konzentrierte sich Boehringer Ingelheim zunehmend auf pharmazeutische Produkte: Bekannte Namen wie Pradaxa oder Mucosolvan wurden produziert. Weitere wichtige Felder wurden Pflanzenschutzmittel und Präparate zur Tiergesundheit.

In der Nachkriegszeit engagierte sich die Unternehmerfamilie u.a. für die Völkerverständigung, z.B. die Internationalen Tage in Ingelheim und die Städtepartnerschaft mit Autun (Frankreich). Im Jahr 1957 entstand die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften, neben die 20 Jahre später die Boehringer Ingelheim Stiftung für Naturwissenschaften trat.

1971 verfügte das drittgrößte Pharmaunternehmens Deutschlands über 22 Auslandsfilialen und erwirtschaftete bereits mehr als die Hälfte seines Umsatzes im Ausland. Ein Drittel der Beschäftigten des Pharmaunternehmens in Deutschland, ca. 5.000 Menschen, war in Ingelheim tätig. Das entsprach hier 53 % aller Erwerbstätigen der Stadt.

Die Aktivitäten auf Märkten im Ausland nahmen stetig zu. Heute macht der Umsatz in Deutschland nur noch etwa 9 Prozent aus. Damit trägt Boehringer Ingelheim zur Exportquote von Rheinland-Pfalz bei. Im Jahr 2020 beschäftigte das forschende Pharmaunternehmen über 16.000 Mitarbeitende in Deutschland, davon über die Hälfte in Ingelheim. Schwerpunktmäßig werden heute Medikamente für Menschen und in zunehmendem Maße auch für Tiere hergestellt.


Autorin: Ute Engelen

Literatur:

  • Engelen, Ute: Vom Entstehen gemischter Industrie zur Monoindustrie – Ingelheims wirtschaftliche Entwicklung von den 1850er- bis in die 1970er-Jahre, in: Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz (Hg.), Ingelheim am Rhein. Geschichte der Stadt von den Anfängen bis in die Gegenwart. Mainz 2019, S. 382-391.
  • Freund, Bernhard: Vom Weinstein zur Metalyse: 120 Jahre Arzneimittelforschung bei Boehringer Ingelheim. In: Pharmazie in Mainz. Historische und aktuelle Aspekte, hg. von Peter Dilg. Berlin 2006, S. 56-68.
  • Freund, Bernhard, 50 Jahre Galenik: Die galenische Entwicklung am Standort Ingelheim, Ingelheim 2004.
  • Kißener, Michael: Boehringer Ingelheim im Nationalsozialismus. Studien zur Geschichte eines mittelständischen chemisch-pharmazeutischen Unternehmens. Stuttgart 2015 (Historische Mitteilungen: Beihefte, 90).
  • Rochard, Patricia, 50 Jahre Internationale Tage Ingelheim: Ein Kulturengagement von Boehringer Ingelheim seit 1959. Ingelheim 2009.
  • Siebler, Michael: Mit Menschen für Menschen. Aus der Geschichte des forschenden Pharmaunternehmens Boehringer Ingelheim. Ingelheim am Rhein 2010.
  • Siebler, Michael: Zur Geschichte von Boehringer Ingelheim. In: Berkessel, Hans u.a. (Hg.), Ingelheim am Rhein. Geschichte der Stadt von den Anfängen bis in die Gegenwart, Mainz 2019, S. 394-405.

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